Aktionsfeld Weltanschauung

Unser unterbewusster Lebensstil ist sozusagen die persönliche Heilslehre (griechisch: “Soteriologie”, auch als Heilkunde übersetzbar), nämlich die Lehre, wie wir uns selbst heilen und meinen, unsere Verwundungen zu überstehen bzw. wie sie geheilt werden müssten. Der Begriff “Heilslehre” zielt jedoch auch bereits auf die weltanschauliche Dimension des Menschseins. Unsere Antworten auf das Widerfahrnis von “leben” sind Enthüllungen unserer Gläubigkeit, bewusst oder unbewusst. Diese Weltanschauung kommt in der persönlichen Musikanschauung (was bedeutet Musikmachen wirklich für mich?) vor. Sprüche wie “Oh, Gott”, “Herr Je”, “Heiliger Bimbam”, “Heiliger Strohsack”, “Du meine Güte”, “Ach du lieber Himmel”, “Da hilft nur noch Beten” u. ä. weisen auf diese weltanschaulichen Hintergründe, weshalb wir uns auch damit auseinandersetzen müssen. Es scheint doch sinnvoll zu sein, dass z. B. das Klientel erfolgreich ist und nicht eine Art lieber Gott.

Auf diesem Aktionsfeld blüht der Moralismus in besonderer Weise. Aus schlichten logischen Schlussfolgerungen oder eben auch aus Erwartungen anderen gegenüber werden sehr schnell moralistische Forderungen und in unserer volkskirchlich-christlichen Umgebung sogenannte christliche Worte, deren Befolgung oder Nichtbefolgung zu einer Beurteilung von Wert und Existenzberechtigung eines Menschen werden können. Es ist leicht, sich eine eigene religiöse Anschauung zu bauen, sich selbst eine Vorstellung vom Ursprung des “lebens” zu machen. Wir verwenden dafür die Begriffe “private Theologie” und “familiäres Glaubensbekenntnis”. Doch alles, was hier unreflektiert gedacht wird, ist Produktion des Lebensstiles.

Zwei Grundfähigkeiten des Menschen, nicht in die Zukunft schauen zu brauchen (“wie wird das enden?”) und Gedanken anderer nicht lesen zu sollen (“was hat der/die vor?”), können als Defizit erfahren werden. Dadurch werden diese wesentlichen Anteile eigener Menschlichkeit ebenso als Defizit und Schuld gedeutet, wie auch die menschliche Fähigkeit zur Angewiesenheit. Hierzu gesellt sich nun das familiäre Glaubensbekenntnis, das zur privaten Theologie ausgebaut wird, und die familiäre “Musikkunde”. Durch die unterbewusste Übertragung entweder des Vater- und/oder des Mutterbildes einer Gottesvorstellung bemächtigen wir uns scheinbar der letzten Kontrollinstanz über ein Musikstück. Durch die Moralismen in der Erziehung und im religiösen Bereich wird dieses Verhalten normiert. Das heißt: was wir von welchem “Gott” auch immer denken, entspricht entweder dem Bild, das wir von unserem Vater haben, oder dem Bild, das wir von unserer Mutter haben, oder dem Bild beider - sofern wir religiöse Gedanken ohne Überprüfung denken.

Wenn wir von unserem Menschsein reden, reden wir auch vom Sein, nicht nur von Seiendem. Das gibt mir zu denken! Denn, das Sein gibt ja offensichtlich an sich selbst teil (Mensch-Sein); das ist für das Sein selbstverständlich - und offenbar nur dem Sein selbst verständlich. Was auch immer vor dem Sein gedacht werden mag, es ist eine ganz und gar individuelle Idee (ob diese nach Platon das Eigentliche sein könnte, wagen wir zu bezweifeln), die nur dem Individuum etwas sagt. Diese höchst intime eigene Einstellung kann nicht auf andere übertragen werden, kann nicht von anderen abgefordert werden, ohne sich dem Verdacht einer Wahnvorstellung auszusetzen (göttliche Stimmen zu hören kann z. B. als schizophrenes Symptom diagnostiziert werden!). Die gehirnphysiologische Wahrheit, dass jeder Mensch sein Gehirn hat, meint das eigene, nicht “Seines”, eines Gottes Hirn. Das Wunder des Seindürfens kann auch nicht durch noch so eine freundliche Gottesvorstellung übertroffen werden -, im Ernst: welcher Gott oder welche Göttin wäre wohl abhängig von unserer Anbetung und unterwerfe das eigene “Sein” dem Qualitätsurteil oder den Musikerfolgen von Menschen?